Kriech- und Luftstrecken richtig auslegen: IEC-Regeln, Materialien, Praxis

Warum Kriech- und Luftstrecken entscheidend sind

Die korrekte Auslegung von Kriech- und Luftstrecken ist entscheidend für die elektrische Sicherheit und Zuverlässigkeit industrieller Anlagen. Werden diese Abstände unterschritten, drohen Lichtbögen, Überschläge oder Isolationsversagen – mit hohen Risiken für Mensch, Maschine und Betrieb.

Gerade bei Leiterplatten, Netzteilen und Schaltschränken unter industriellen Bedingungen (Staub, Feuchtigkeit, Temperaturschwankungen) ist die Einhaltung der IEC 60664-1 / DIN EN IEC 60664-1 (VDE 0110-1) zwingend. Diese Norm liefert Grenzwerte, Rechenbeispiele und Diagramme, die Entwicklern helfen, sichere Isolationsabstände umzusetzen.

Was sind Kriech- und Luftstrecken?

Luftstrecke (Clearance): kürzeste Entfernung durch die Luft zwischen zwei leitenden Teilen.
Kriechstrecke (Creepage): kürzester Weg entlang einer festen Isolationsoberfläche.

Beide Abstände haben unterschiedliche Aufgaben: Die Luftstrecke verhindert Überschläge durch ionisierte Luft, während die Kriechstrecke vor Kriechströmen über Isolationsoberflächen schützt. Die Kriechstrecke darf nie kleiner als die Luftstrecke sein. Kenntnisse über Spannung, Material und Umgebung sind notwendig, um normgerechte Werte festzulegen.

Normen und Grundlagen (IEC 60664-1)

Die IEC 60664-1 regelt die Isolationskoordination für Betriebsmittel bis 1 000 V AC / 1 500 V DC. Sie definiert Mindestabstände in Abhängigkeit von Spannung, Verschmutzungsgrad, Werkstoffgruppe und Höhe über dem Meeresspiegel. Über 2 000 m ist ein Korrekturfaktor 1,25 anzuwenden, da mit sinkendem Luftdruck die Durchschlagsfestigkeit abnimmt.

Rechenbeispiel nach IEC

Beispiel: Gerät mit Überspannungskategorie III, 400 V AC, Verschmutzungsgrad 3 → Mindest-Luftstrecke = 5,5 mm, Kriechstrecke = 8 mm.
Bei 3 000 m Höhe multipliziert mit Faktor 1,25 ergibt sich eine Luftstrecke von 6,9 mm.

Formeln zur Abschätzung

Luftstrecke (dL): dL ≈ Ueff × 0,01 × kH
Kriechstrecke (dK): dK ≈ CTI-Faktor × Umgebungskoeffizient
Diese Formeln dienen der Orientierung, genaue Werte liefert die IEC-Tabelle.

Verschmutzungsgrade nach IEC

GradBeschreibungAnwendung
1Keine leitfähige VerschmutzungPräzisionselektronik in geschlossenen Gehäusen
2Nichtleitfähige Verschmutzung, gelegentliche BetauungBürogeräte, Haushaltsgeräte
3Leitfähige Verschmutzung oder KondensationIndustriehallen, Maschinenbau
4Dauerhaft leitfähige VerschmutzungAußeninstallationen, Chemieanlagen

Werkstoffgruppen und CTI-Werte

Der Comparative Tracking Index (CTI) beschreibt die Widerstandsfähigkeit eines Isolierstoffs gegen Kriechströme. Ein höherer CTI erlaubt kleinere Kriechstrecken.

GruppeCTIMaterialienBemerkung
I≥ 600Epoxidharze, HochleistungskunststoffeFür kompakte Bauformen geeignet
II400–599Polyamid, PolycarbonatGuter Kompromiss zwischen Preis und Sicherheit
IIIa175–399PVC, ABSStandard im Schaltschrankbau
IIIb< 175PhenolharzeNur für trockene Umgebung geeignet

Vorgehensweise zur sicheren Auslegung

  1. Betriebsspannung & Überspannungskategorie festlegen.
  2. Verschmutzungsgrad bestimmen.
  3. Werkstoffgruppe (CTI) erfassen.
  4. Abstände aus Normtabellen entnehmen oder berechnen.
  5. Design anpassen: Rillen, Barrieren, Beschichtungen.
  6. Prüfung & Dokumentation durchführen.

Beispielhafte Mindestwerte (Kategorie III, Verschmutzungsgrad 3)

Spannung (V AC)Luftstrecke (mm)Kriechstrecke (mm)
2303,05,0
4005,58,0
6908,012,5
1 00010,016,0

Praxisbeispiele

Steuerung in Industriehalle

Ein Schaltschrank mit 400 V AC und Verschmutzungsgrad 3 benötigt nach IEC 60664-1 mindestens 5,5 mm Luft- und 8 mm Kriechstrecke. Mit CTI ≥ 600 kann die Kriechstrecke um rund 25 % reduziert werden. Rillen und Kerben erhöhen den Abstand, ohne den Bauraum zu vergrößern.

Leiterplattenlayout nach IEC 60664-1

Leiterplatten sind oft kritisch, da der Platz begrenzt ist. Zwischen Primär- und Sekundärseite gelten 6,4 mm Luftstrecke und 8 mm Kriechstrecke. Schlitzfräsungen verlängern den Kriechweg, Schutzlacke oder Verguss mindern Feuchtigkeitseinfluss, und abgerundete Pads vermeiden Feldüberhöhungen. Eine Layoutskizze mit markierten Abständen erleichtert die Überprüfung.

Rechenbeispiel

Netzteil mit 230 V AC, Verschmutzungsgrad 2, Werkstoffgruppe II: Luft = 2,5 mm, Kriech = 4 mm. Bei Verschmutzungsgrad 3 steigt die Kriechstrecke auf 5 mm (+25 %).

Häufige Fehler und Tipps aus der Praxis

Häufige Fehler entstehen meist durch falsche Annahmen zu Umgebung und Material. Wird der Verschmutzungsgrad unterschätzt, fallen die gewählten Abstände zu klein aus. Ebenso problematisch ist ein falscher CTI-Wert, der zu Materialversagen bei Feuchtigkeit führen kann. Auch die Höhe über dem Meeresspiegel wird häufig ignoriert – dabei reduziert der geringere Luftdruck die Isolationsfestigkeit erheblich. Ein weiterer klassischer Fehler besteht darin, die Kriechstrecke kleiner als die Luftstrecke zu wählen, was einen klaren Normverstoß darstellt. Schließlich fehlt in der Praxis oft die Isolationsprüfung nach Fertigung, obwohl sie ein wichtiger Nachweis der tatsächlichen Sicherheit ist.

Zur Vermeidung dieser Probleme sollten Entwickler auf hochwertige CTI-600-Materialien setzen, gezielt Rillen, Schlitze und Barrieren einplanen und PCB-Layout-Software mit Abstandsprüfung nutzen. Abgerundete Kanten verringern Feldspitzen, und der Korrekturfaktor für Höhen über 2 000 m muss stets berücksichtigt werden. Ebenso wichtig sind eine sorgfältige Dokumentation und Nachweisführung, um die Normkonformität jederzeit belegen zu können.

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