Brandschutzanforderungen für Netzleitungen in Industrieanlagen

Brandschutz in Industrieanlagen ist weit mehr als eine gesetzliche Pflicht. Er ist zentraler Bestandteil der Betriebssicherheit – insbesondere, wenn es um elektrische Netzleitungen geht. Diese bilden das Rückgrat zahlreicher industrieller Prozesse, von der Energieverteilung bis zur Maschinensteuerung. Damit geht eine besondere Verantwortung in der Planung, Installation und Wartung einher. In diesem Beitrag erhalten Sie einen umfassenden Überblick über geltende Normen, Schutzziele, Funktionserhalt, Schottungslösungen und praxistaugliche Anforderungen für Betreiber – mit besonderem Fokus auf elektrische Leitungen in Industrieumgebungen.

Schutzziele im Industrie-Brandschutz

Verhinderung von Brandentstehung

Elektrische Netzleitungen dürfen nicht zur Brandquelle werden. Bereits bei der Auswahl geeigneter Kabeltypen müssen Aspekte wie das Brandverhalten, die Temperaturbeständigkeit und der Einsatzbereich berücksichtigt werden. Besonders in explosionsgefährdeten Bereichen (Ex-Zonen) sind nur spezielle, zugelassene Leitungen zulässig. Eine überlastsichere Verlegung sowie der Einsatz geeigneter Schutzmaßnahmen wie Vorsicherungen oder Leitungsschutzschalter sind unerlässlich. Auch die regelmäßige Inspektion auf Alterung, Isolationsschäden oder Materialermüdung ist Teil der vorbeugenden Brandvermeidung.

Begrenzung von Feuer- und Rauchausbreitung

Leitungen führen häufig durch mehrere Brandabschnitte und funktionale Bereiche. Daher ist die fachgerechte Abschottung an Wand- und Deckendurchführungen entscheidend. Hierbei kommen kombinierte Systeme wie Kabelboxen mit intumeszierenden Materialien, Mineralfaserschotts oder zugelassene Abschottungssysteme zum Einsatz. Ziel ist es, eine Ausbreitung von Feuer und Rauch zu verhindern oder zumindest deutlich zu verzögern, sodass Rettungskräfte Zeit gewinnen und benachbarte Gebäudeteile geschützt bleiben.

Sicherstellung von Rettung und Löscharbeiten

Sicherheitsrelevante Systeme wie Notbeleuchtung, Entrauchungsanlagen, Brandmeldeeinrichtungen oder Aufzüge müssen auch im Brandfall weiter funktionsfähig bleiben. Das erfordert elektrische Leitungen mit nachgewiesenem Funktionserhalt, etwa nach E30 oder E90 gemäß DIN 4102-12. Ohne diese Sicherstellung besteht das Risiko, dass lebenswichtige Anlagen ausfallen, was Evakuierung und Brandbekämpfung massiv behindern kann.

Relevante Regelwerke und Normen

Industriebaurichtlinie und DIN 18230

Die Industriebaurichtlinie fordert unter anderem Brandschutzkonzepte für elektrische Anlagen in Industriegebäuden. Sie legt Anforderungen an die Feuerwiderstandsklassen baulicher Strukturen fest und verweist auf baurechtliche Mindeststandards für Leitungsführung, Materialwahl und Raumtrennung. In Kombination mit der DIN 18230 (Brandschutz im Industriebau) ergibt sich ein abgestimmtes Gesamtkonzept, das den besonderen Risiken industrieller Anlagen Rechnung trägt.

MLAR – Muster-Leitungsanlagen-Richtlinie

Die MLAR regelt, wie Leitungen durch Brandabschnitte geführt werden dürfen. Je nach Einsatzbereich sind Abschottungen, Umhausungen oder ein kompletter Funktionserhalt erforderlich. Besonders relevant ist die MLAR bei der Durchführung durch feuerwiderstandsfähige Wände oder Decken, etwa zwischen Produktions- und Lagerbereichen. Auch Nachinstallationen und Mischinstallationen aus Strom-, Daten- und Medienleitungen sind berücksichtigt.

VdS 3103 und VdS 2025

Die Richtlinien VdS 3103 (elektrische Anlagen) und VdS 2025 (Installationstechniken) konkretisieren Anforderungen an die Ausführung elektrischer Installationen aus Sicht des vorbeugenden Brandschutzes. Sie definieren unter anderem Vorgaben für die Auswahl geeigneter Betriebsmittel, die Trennung sicherheitsrelevanter Systeme sowie den Einsatz von Kabeln mit reduziertem Brandverhalten. Diese VdS-Richtlinien werden insbesondere bei versicherungstechnischen Abnahmen herangezogen und gelten in vielen Branchen als Stand der Technik.

Funktionserhalt elektrischer Leitungen

E30 bis E90: Was bedeuten diese Klassen?

Nach DIN 4102-12 bedeutet E30, E60 oder E90, dass die jeweilige elektrische Verbindung für 30, 60 oder 90 Minuten auch unter Brandeinwirkung funktionsfähig bleibt. Dies betrifft nicht nur das Kabelmaterial selbst, sondern das gesamte System inklusive Tragsystem, Befestigungselemente und Untergrund. Für eine gültige Klassifizierung ist eine Systemprüfung erforderlich – Einzelkomponenten reichen nicht aus.

Technische Lösungen

In der Praxis kommen verschiedene technische Systeme zum Einsatz:

  • Kabelkanäle mit Funktionserhalt, häufig aus Stahlblech mit thermischer Isolierung
  • Mineralisolierte Leitungen (MI-Kabel), besonders geeignet für hohe Temperaturen
  • Brandschutzbeschichtungen zur Nachrüstung bestehender Kabelanlagen
  • Brandschutzschotts mit geprüften F-Klassen, passend zur Wand- oder Deckendicke

Zudem existieren vorkonfektionierte Lösungen für standardisierte Anwendungen, etwa in Sprinklerzentralen, Notstromverteilungen oder kritischen Serverräumen.

Planung und Nachweise

Nur Systeme mit einer allgemein bauaufsichtlichen Zulassung (abZ) oder einer europäischen technischen Bewertung (ETA) dürfen verwendet werden. Die Einhaltung der Montageanleitung, die lückenlose Dokumentation und – je nach Landesbauordnung – eine Abnahme durch Sachverständige sind verpflichtend. Für sicherheitsrelevante Anwendungen empfiehlt sich zudem eine regelmäßige Re-Zertifizierung bzw. eine Wiederholungsprüfung im Zuge der Wartung.

Brandschutz bei Leitungsdurchführungen

Abschottung von Wand- und Deckendurchbrüchen

Führen Netzleitungen durch feuerwiderstandsfähige Bauteile, müssen diese Durchführungen brandschutztechnisch behandelt werden. Möglich sind:

  • Kombischotts aus Mineralwolle, Mörtel oder speziellen Plattensystemen
  • Kabelboxen mit expandierendem Brandschutzmaterial
  • Kabelmanschetten oder Stopfenlösungen für Einzelleitungen

Diese Abschottungen müssen exakt zur Wand- bzw. Deckendicke und den installierten Leitungstypen passen. Nachinstallationen dürfen die zulässige Belegung nicht überschreiten.

Integration in komplexe Anlagen

In der Praxis verlaufen elektrische Leitungen oft gemeinsam mit Wasser-, Druckluft- oder Steuerleitungen. Daraus ergeben sich erhöhte Anforderungen – etwa an die Trennung brennbarer Medien oder den Einsatz zusätzlicher Abschottungssysteme. Auch EMV-Anforderungen und Schallschutzaspekte sind mit dem Brandschutz abzustimmen. Entsprechende Details regelt unter anderem die DIN 4102-11 sowie produktspezifische Einbauanleitungen der Systemhersteller.

Brandschutz in Flucht- und Rettungswegen

Übersicht: Zulässige und unzulässige Installationen

InstallationsmerkmalZulässig (Beispiel)Unzulässig (Beispiel)
Leitungstyphalogenfreie Leitung mit E30/E90 FunktionserhaltPVC-Leitung ohne geprüften Funktionserhalt
VerlegeartVerlegung in metallischem Installationskanal mit Zulassunglose Verlegung in offenen Kunststoffkanälen ohne Brandschutznachweis
Tragsysteme und Halterunggeprüfte Brandschutzhalter mit Typenschildimprovisierte Kabelschellen oder Nietbänder
Abschottung bei DurchbrüchenKabelschott mit abZ / ETA für Wand- und DeckendurchführungenMörtel- oder Schaumabschottung ohne bauaufsichtliche Zulassung
Nachinstallationendokumentiert, brandschutztechnisch nachgerüstetunkontrollierte Erweiterung ohne Prüfung der zulässigen Belegung
EinsatzbereichSicherheitsbeleuchtung, Brandmeldeanlage, EntrauchungVerlängerung für Steckdosen oder Maschinenstromversorgung in Rettungswegen

Zulässige Leitungsarten und Materialien

Nur nicht brennbare oder schwer entflammbare Materialien dürfen verwendet werden. Installationskanäle aus Kunststoff sind nur zulässig, wenn sie eine bauaufsichtliche Zulassung und entsprechendes Brandverhalten (z. B. halogenfrei, geringer Rauchgasindex) nachweisen. Zudem müssen alle Komponenten (Kanal, Leitung, Halterung) in ihrer Kombination geprüft sein.

Anforderungen an Funktionserhalt

Stromkreise für sicherheitsrelevante Systeme wie Notbeleuchtung oder Brandmeldeanlagen müssen über die gesamte Fluchtweglänge hinweg den Funktionserhalt gemäß E30 bis E90 nach DIN 4102-12 sicherstellen. Dies umfasst nicht nur die Kabel selbst, sondern auch die Montage (z. B. Abstand zu brennbaren Materialien, Befestigungssysteme, Kabeltragsysteme).

Unzulässige Installationen

In vielen Bundesländern ist es unzulässig, Installationen ohne Funktionserhalt in Rettungswegen zu verlegen – selbst dann, wenn sie im Normalbetrieb keinen sicherheitsrelevanten Zweck erfüllen. Auch nachträgliche Installationen ohne korrekte Abschottung oder Systemnachweis stellen ein erhebliches Risiko dar und sind regelmäßig Gegenstand von Beanstandungen bei Brandschutzbegehungen.

Planung und Nachweisführung

Bereits in der Planungsphase ist die Abstimmung mit Brandschutzkonzept und Genehmigungsplanung erforderlich. Nachweise sind über Übereinstimmungserklärungen (ÜHP), Verwendbarkeitsnachweise (abZ/ETA) und Prüfprotokolle zu erbringen. Darüber hinaus sollten Betreiber eine einheitliche Dokumentation der Leitungsführung in Rettungswegen pflegen – inklusive Fotos, Skizzen und Nachweisen zur Installationsqualität.

Praktische Anforderungen für Betreiber

Dokumentation & Prüfung

Alle brandschutztechnisch relevanten Leitungen müssen dokumentiert, regelmäßig kontrolliert und instand gehalten werden. Betreiber sollten folgende Punkte beachten:

  • Sichtkontrollen auf äußere Beschädigungen, etwa durch mechanische Belastung oder Korrosion
  • Überprüfung der Brandschutzabschottungen, inklusive Nachinstallation von Leitungen
  • Thermografieeinsätze, um potenzielle Überlastungen oder fehlerhafte Kontakte frühzeitig zu erkennen

Ein digitales Prüfprotokoll mit Fotodokumentation und Terminüberwachung erleichtert die Nachweispflicht gegenüber Behörden und Versicherern erheblich.

Wartung und Instandhaltung

Wartungsarbeiten dürfen ausschließlich durch geschultes Fachpersonal durchgeführt werden. Beschädigte Schotts, offenliegende Kabelkanäle oder fehlerhafte Leitungswege müssen umgehend behoben werden. Bei temporären Installationen (z. B. bei Umbauten oder Wartungsarbeiten) ist auf provisorische Abschottungen zu achten – insbesondere bei längerer Nutzungsdauer. Empfehlenswert sind dabei modulare Systeme, die eine einfache Rückrüstung ermöglichen.

Vertiefende Informationen zur Auswahl industrietauglicher Netzleitungen, zur sicheren Kabelverlegung und zur normgerechten Spannungsversorgung finden Sie unter anderem in den Beiträgen zur Installation im Schaltschrankbau, zur Analyse typischer Fehlerquellen sowie zur Bewertung relevanter Prüfzeichen und Zertifikate. Weitere Informationen finden Sie hier:

Glossar: Wichtige Begriffe im Brandschutz elektrischer Leitungen

E30 / E90: Klassifizierung gemäß DIN 4102-12 für den Funktionserhalt elektrischer Leitungen unter Brandeinwirkung. E30 bedeutet Funktionserhalt für 30 Minuten, E90 für 90 Minuten.

MLAR: Abkürzung für Muster-Leitungsanlagen-Richtlinie. Sie regelt brandschutztechnische Anforderungen an die Verlegung von Leitungen durch Wände, Decken und Fluchtwege in Gebäuden.

abZ: Allgemeine bauaufsichtliche Zulassung. Sie bestätigt, dass ein Bauprodukt den Anforderungen des deutschen Baurechts entspricht und bauaufsichtlich verwendet werden darf.

ETA: Europäische Technische Bewertung (European Technical Assessment). Sie erlaubt die Verwendung von Bauprodukten ohne harmonisierte Normen in der EU.

Funktionserhalt: Fähigkeit eines elektrischen Systems, trotz Brandeinwirkung über einen definierten Zeitraum funktionsfähig zu bleiben.

Kabelabschottung: Spezielle Brandschutzmaßnahme an Wand- oder Deckendurchbrüchen zur Verhinderung der Feuer- und Rauchausbreitung.


Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine Fachplanung oder Einzelfallbewertung. Im Zweifel sind spezialisierte Fachplaner oder Brandschutzgutachter einzubeziehen – insbesondere bei kritischen Infrastrukturen oder genehmigungspflichtigen Industrieanlagen.